Wie jedes Jahr mache ich zum Zuckerfest meine Baklava, so wie vor Jahrzehnten mit meiner Mutter. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf der Eckbank sitzt wie vor einigen Jahrzehnten und meine Bewegungen beobachtet, als ich noch unter ihrer Aufsicht die Baklava machte. Semiha sollte lernen, wie man Baklava-Yufka ausrollt. Schließlich war meine Mutter in ihrem Dorf bekannt für ihre Yufka und Baklava. Ich denke, es war für sie noch anstrengender mir zuzusehen, als für mich die Baklava zu machen. Sie war meine gewissenhafte Lehrmeisterin. Ich sollte ihre Schuhe ausfüllen, die einfach viel zu groß für mich waren. Wachsen konnte ich nicht, aber ich übte, über ein Jahr machte ich zur Freude meines Vaters jede Woche mindestens eine Börekspezialität mit Yufkateig. Ich konnte schon zwei bis drei Yufka auf einmal ausrollen und wurde immer schneller. Nun musste ich die nächste Stufe schaffen und fünf Yufka auf einmal ausrollen lernen.
Die Zeremonie fing mit dem Teig an. Ich siebte das Mehl in eine große Schüssel und dann kamen die anderen Zutaten. Die Mengenangaben hatte Mama im Gefühl (wir hatten keine Küchenwaage), alles ging einfach so aus dem Handgelenk. Sie veränderte den Teig, je nach dem, was ihre Recherchen beim letzten Zuckerfest ergeben hatten. Mal kam ein Ei hinein, mal etwas Joghurt, mal etwas Öl, das wechselte jedes Jahr. Irgendwann habe ich ein Rezept mit Ei und Joghurt für mich entdeckt. Meinem Vater schienen sie zu schmecken und ich schickte jedes Mal zum Zuckerfest eine Backform mit Baklava zu meinen Eltern, wenn ich nicht zum Festtag kommen konnte. Meine Mutter erzählte stolz, dass er die Baklava keinem Gast anbot und nur für die Familie behielt und mit ihr genoss. Ich hatte es geschafft, ich konnte Baklava machen und meine Eltern genossen stolz meine Baklava. Und meine Mama war meine Lehrmeisterin.
Sie brachte mir bei, wie ich die Oklava (türkisches Nudelholz) bewege, damit die Yufka gleichmäßig dünn ausgerollt wurde. Wenn ich nicht aufpasste, konnte die Mitte zu dünn werden, während die Ränder noch zu dick waren. Also vor, zurück, versetzt neu ansetzen. Mama schaute zu und sobald ich den Griff verstanden hatte, zeigte sie mir, wie ich das Mehl auf der Tischplatte hin und her bewegte und die Küche nicht mit Mehl überstäubte. Ich rollte und rollte, ließ von meiner Mama die Hände auf das Nudelholz platzieren und beim Rollen aus der Mitte an den Rand hin gleiten. Meine Mama sagte nichts, aber ich fühlte, dass sie meine Hände sehr gut beobachtete und mit Genuss meine Bewegungen verfolgte. Sie war meine große Lehrerin für die Kunst des Yufka-Ausrollens. Danach konnte sie sich hinsetzen und mich beobachten, wie ich ihre Anleitungen umsetzte. Nichts konnte meiner Mutter entgehen: nicht soviel Stärke, nicht so viele Nüsse, streiche die Yufka gut mit Butter ein, sonst wird sie nicht knusprig.
Egal wie oft ich diese Baklava machte, es gab immer etwas zu verbessern. Sie ist die innere Stimme in meinem Kopf, wenn ich mich wieder zum Yufka Ausrollen hinstelle. Sie beobachtet nach wie vor meine Bewegungen und ich liebe sie dafür und bin ihr so unendlich dankbar. Sie hat mir den Drang zur Perfektion eingeimpft. Ich bin mein größter Kritiker und will meine Baklava immer besser machen und lerne weiter.
Dieses Jahr habe ich den Teig nur mit Milch geknetet. Ich bin in meiner Baklava Historie etwas zurück gegangen und habe meine fünfer Yufka Portionen mit ganz wenig zerlassener Butter bestrichen und nur zwei Lagen Nüsse gemacht. Die letzten fünf Yufka bestreiche ich jeweils mit zerlassener Butter, so werden diese schön knusprig und gehen etwas auf. Das sieht einfach schön aus. Dann schneide ich meine Baklava und bestreiche sie gut mit zerlassener Butter. Dann wird gebacken. Sie müssen schön gebräunt sein. Die ganze Wohnung duftet nach Butter und Nüssen, Erinnerungen werden wach. Es ist fast so, als würden meine Eltern schon auf der Eckbank warten: Eine Portion Baklava mit heißem türkischem Tee, herrlich!
Nachdem Backen müssen die Baklava etwas Luft holen und ruhen bis sie lauwarm sind. Anschließend begieße ich sie langsam mit lauwarmem Sirup. Nun heißt es abwarten, bis der Sirup gut eingezogen ist, dann kann serviert werden. Man sieht meiner Baklava an, dass sie hausgemacht ist. Stille herrscht am Tisch ein leichtes Ohhhmmm und Hhhmmhh ist zu vernehmen; hörst du sie Mama? Sie sind einfach himmlisch. Afiyet olsun!
Ich bin neugierig, welche unserer kleinen Prinzessinnen bei mir in die Baklava-Lehre gehen wird.